erschienen in: www.dichtung-digital.de/Interviews/Berkenheger-28-Sep-00
Hyperfiction pur
Interview mit Susanne Berkenheger
Susanne Berkenheger steht mit ihren preisgekrönten Hyperfictions
"Zeit für die Bombe" (Besprechung) und "Hilfe!" (Besprechung) für
die
deutsce Fraktion des Hypertextes, die auch im Zeitalter des
multimedialen Internet ohne Bild- und Tonelemente auskommt und
allein auf das Abenteuer einer etwas (genauer: ziemlich) anderen
Begegnung mit dem Wort setzt.
Roberto Simanowski sprach mit ihr über beide Werke sowie über
das
Bombenlegen per Klick, über die Beobachtung des Lesers durch den
Text, über die Beschleunigung des Lesers, seine Verwandlung zum
Mitspieler, die Gretchenfrage der digitalen Literatur sowie über den
Zusammenhang von Avantgarde und Wurst.
Teil I - "Zeit für die Bombe"
dd: Susanne, mit deiner Hyperfiction "Zeit für die Bombe" wurdest
du Sieger
des Internet-Literaturwettbewerbs 1997. Was hat dich dazu gebracht, am
Wettbewerb teilzunehmen?
SB: Das war recht simpel von mir als "Werbemaßnahme" für meine
Homepage
gedacht. "Zeit für die Bombe" sollte ein Leser-Lockvogel sein. Denn
wie ich
erfreut festgestellt hatte, bot der Zeit-Wettbewerb diese fantastische
(zudem
noch alphabetisch sortierte) Liste der Beiträge, in die jeder aufgenommen
wurde, ganz egal was die "Zeit" von ihm hielt. Das fand ich erstens
ympathisch und zweitens hatte ich als B. durch die alphabetische Sortierung
ja
quasi schon per Geburt eine recht gute Ausgangsposition, dass meinen
Beitrag auch jemand lesen würde. Und die drei oder vier, denen er
gefallen
würde, die würden vielleicht auf meine homepage kommen. Mehr
dachte ich mir
dabei eigentlich nicht.
Mein Problem war ein bisschen die Mengenbeschränkung, denn völlig
unwissend, dass es diesen Wettbewerb gab, hatte ich die "Zeit für
die Bombe"
frei drauf los geschrieben. Ehrlich gesagt, kannte ich Anfang 1997 keinen
einzigen literarischen Hypertext, den Internet-Anschluss hatte ich erst
seit
wenigen Wochen und von Wettbewerben für Internet-Literatur hatte ich
noch nie
was gehört. Ich hatte mich einfach noch nie damit beschäftigt.
Deshalb hat es
wahrscheinlich so großen Spaß gemacht, so was zu schreiben.
Und das ist
auch der Grund, warum ich weiterhin möglichst Dinge machen will, die
es so
noch nicht gibt.
Dann abbonnierte ich die Mailingliste "Netzliteratur" und staunte nicht
schlecht.
Wahnsinn! Dieser riesige Diskussionsbedarf. Der wird mir wohl immer ein
Rätsel bleiben. Aber ich erfuhr hier zum ersten Mal vom Pegasus-Wettbewerb
und stellte fest, dass mein Hypertext rund 190 KB dick war, also fast das
Doppelte des Zulässigen, und er war eigentlich erst zu drei Vierteln
fertig, wenn
ich ein Ende überhaupt einschätzen konnte. Ich musste also recht
rabiat
kürzen, eine ganze russische Familie samt Wohnung flog raus, ein Taxifahrer
und etliche Straßenzüge. Schwierig war vor allem, nirgendwo
etwa einen
Handschuh einer rausgestrichenen Person zu vergessen, ganz abgesehen von
subtileren Bezügen. Naja, wie das halt so ist. Das Netz aus Links
geriet
ebenfalls ziemlich außer Kontrolle.
Vielleicht hat der "Bombe" die Raffung (auf 99,X KB) gut getan. Das ist
gut
möglich. Ursprünglich wollte ich natürlich die Langversion
noch fertig machen
und auf die Homepage packen, aber ... irgendwie kam ich dann nicht mehr
dazu ;)
dd: Was dachtest du, als man neben Berlichs "Core"
dein Werk das beste
nannte?
SB: Die Benachrichtigung an sich war ziemlich klasse, ein unglaublich
surrealer Moment: Martin Virtel von der "Zeit" rief mich gleich nach der
Jury-Sitzung an, und meldete sich mit den Worten: "Hier Vi(e)rtel von der
Zeit".
Und ich dachte, was ist nun los, "Ein Viertel von der Zeit??", was soll
das denn
sein? (im ersten Moment glaubte ich, Opfer einer Telefon-Kunstaktion zu
sein)
... Als Martin Virtel mir dann sagte, ich hätte gewonnen, konnte ich
das ehrlich
gesagt kaum glauben, ich war komplett übertölpelt. Den zweiten
Teil seiner
Mitteilung, dass nämlich der Preis geteilt worden sei, den verstand
ich dagegen
sofort.
Denn, so wie ich die Ausschreibung gelesen hatte, hätte die Zeit doch
sehr
gern eine Multimedia-Arbeit prämiert. (Deswegen habe ich mir ja auch
überhaupt keine Gewinnchancen ausgerechnet) Aus jedem Satz konnte
man
das rauslesen, fand ich. Das heißt, aus FAST jedem Satz, bis auf
diesen
speziellen Satz über die 100 KB-Beschränkung. Eine Multimedia-Arbeit
von
100 KB haben zu wollen, das war schon eine recht wahnwitzige
Herausforderung an die Macher. "Aha, offenbar haben sie keinen
überzeugenden Multimedia-Beitrag gefunden.", dachte ich, als ich von
der
Preisteilung hörte, und dass Peters "core" und meine "Bombe" dann
wohl die
zwei kleinsten gemeinsamen Nenner waren.
dd: Zumindest sind beide Werke reine Wortwerke und
halten sich an die
Mahnung des Rundschreibens der Pegasus-Veranstalter von 97 an die
Teilnehmer: "Das Internet ist - trotz seiner bunten, multimedialen
Unterabteilung, des World Wide Web - im Kern immer noch ein sprachliches
Universum: E-Mail, Newsgroups, Mailinglisten und die Newsangebote des
WWW - all das lebt von der Kraft (oder Schwäche) des Worts und kommt
ohne
Bilder und Töne aus." Es ist interessant, dass du für 97 schon
die Erwartung
des multmedialen Werks notierst.
SB: Jetzt, wo du das zitierst, finde ich diese Einschätzung in der
Tat auch
"interessant", oder besser gesagt etwas merkwürdig. Wieso habe ich
das
gedacht? Möglicherweise lag es daran, dass ich mich damals viel mehr
von der
Mailingliste Netzliteratur beeindrucken ließ als von den Rundschreiben
der Zeit.
Hmm. Andererseits. Ist das überhaupt eine Mahnung? Ist das nicht eher
eine
Rechtfertigung, wieso etwas Literaturwettbewerb heißt, zu dem einer
Bilder
einschicken kann, soll ... oder vielleicht lieber doch nicht soll? Diese
Ausschreibungstexte sind eigentlich ziemlich interessant. Einerseits sagen
sie: Schickt uns Bilder, schickt uns Sounds, alles ist möglich ...
dann
wiederum heißt es: Also mal unter uns gesagt, der "Kern der Sache"
kommt
natürlich ohne so einen Firlefanz aus. Klassische Double-bind-Situation
für
jemanden, der sich danach richten will.
dd: An den Ausschreibungstexten hakt es meistens, denn niemand weiß
so
recht, worauf man eigentlich aus ist. Ist Netzliteratur nun v.a. multilinear
oder
intermedial oder interaktiv oder alles zusammen? Und wie 'netzig' muss
sie
sein?! Was den Wettbewerb betrifft, der 1998 dann Pegasus hieß, sehe
ich die
richtige Ermunterung zu Text-Bild-Allianzen erst 98, als faktisch jegliche
Umfangsbegrenzung der Beiträge aufgehoben wurde. 97 beschwor man in
der
Laudatio noch das "originäre Kunstwerk, das Wellen schlägt wie
seinerzeit 'Die
Leiden des jungen Werthers', 'Madame Bovary' oder eben 'Ulysses'" …
SB: Ja genau Ulysses, aber diesen dann als "Gesamtkunstwerk",
konsumierbar in einer "Erlebniszeit" von rund 15 Minuten. An die beiden
Begriffe kann ich mich noch sehr gut erinnern. Das schien mir so in etwa
die
Erwartung zu sein. Ahm ja, das ist natürlich etwas schwer zu erfüllen
...
dd: … ein Jahr später rief man zwar noch nicht
nach einem Schönberg,
Eisenstein oder Picasso (vielleicht weil du, als Laudatorin, dich dem Wort
verpflichtet fühltest ;), aber mit der Prämierung zweier Text-Bild-Beiträge
war
der Wettbewerb nun doch offensichtlich in der Realität seines Gegenstandes
angekommen.
SB: Vielleicht gibt es diesen Gegenstand gar nicht. Ich glaube, das spaltet
sich im Medienverbund Internet zu sehr auf - in verschiedene Richtungen,
in
Dinge, die mehr als Konzept funktionieren, Fakes und Ähnliches, in
Erzählerisches (mit welchen Mitteln auch immer), in Lyrik, in ...
Performatives
(das scheint im Moment hauptsächlich im Gespräch zu sein). Und
das, diese
unabsehbare Aufspaltung, ist natürlich das ganze Glück an der
Sache.
Solange Wettbewerbsbezeichungen nach Einsendung der Beiträge gleich
wieder aus den Nähten platzen, ist doch alles gut, oder nicht?
dd: Die meisten Veranstalter und Beiträger scheinen
damit nicht so glücklich
zu sein. Die Veranstalter bewegen sich da zumal in einem Teufelskreis.
Je
offener die Ausschreibung bleibt, um so rigider wird die Entscheidung der
Jury
empfunden. Optiert sie für den Hypertext, fühlen sich die betrogen,
die auf
'richtige' Interaktivität setzten, also zwischen Mensch und Mensch
statt, wie
gewöhnlich bei Hypertext, zwischen Mensch und Programm. Die Jünger
der
bewegten Bilder unterstreichen wiederum, dass es die Intermedialität
ist, auf
die es v.a. ankommt. Man weiß nicht, von welcher Seite das Pferd
aufzuzäumen ist. Man weiß nicht einmal mehr, ob es noch ein
Pferd ist.
Schade, dass es kein Pegasus 99 gab, vielleicht hätte man bereits
auf ein
neutraleres Symbol umgesattelt.
SB: Du denkst an ... was bestimmtes?
dd: Nun, die Maus wäre es wegen der Niederungen,
in denen sie sich bewegt,
wohl nicht. Andererseits, wenn man bedenkt, welch Angriff das Ganze auf
die
seriöse Dichtung bedeutet ... Wäre es ein Wettbewerb nur für
Hypertexte, wäre
ich, mit Blick auf dessen rhizomatische Struktur, für den Tausendfüßler.
Aber zurück zu deinem Werk. "Zeit für die Bombe" ist die "Geschichte
einer
Liebe und einer Bombe". Veronika kommt nach Moskau, eine Bombe für
Vladimir im Koffer, der damit die russische Seele retten will. Da Vladimir
wegen
einer Blondinen in seinem Bett Veronika nicht vom Bahnhof abholen kann,
stolpert diese in die Arme eines verschneiten Studenten, Iwan, der kurz
darauf
verwundert ihren Koffer in den Händen hält. Iwan wird ihn später
öffnen, so
dumm sein, die Bombe zu zünden, und 24 h danach, weil er auch so dumm
ist, den Koffer weiter bei sich zu behalten, gemeinsam mit 32 Passanten
von
ihr zerrissen werden. Ist Iwan die russische Seele, die nicht zu retten
war?
SB: Ja, spricht eigentlich nichts dagegen, das so zu sehen. Die russische
Seele hat ein bisschen mit meiner Vorliebe für russische Erzähler
zu tun
(unschlagbar finde ich Nabokov, auch Belyi, Lermontow ... früher auch
Dostojewski). Kurz gesagt: Die russische Seele bedeutet für mich eine
starke
Leseerfahrung, die dem Leser eine Welt bietet, in die er sich reinfallen
lassen
kann. So kann aber ein gewissermaßen "explodierter Text", ein Hypertext,
niemals funktionieren, glaub ich.
Eine Ebene drüber hat der Bombenzünder Iwan viel mit Medienberichten
aus
Russland zu tun, damals gab es ja diesen Boom unglaublicher Geschichten,
manchmal dachte ich, das gibt es doch nicht: Führen die jetzt ihre
Literatur live
auf? Diesen spektakulären, reißerischen Russland-Mythos fand
ich geeignet für
einen Hypertext, der im Internet funktionieren soll.
dd: Inwiefern?
SB: Ich sah Parallelen. Also, diese zwei unerwarteten Öffnungen durch
a) den
Mauerfall und b) das Internet schienen mir Räume zu schaffen, die
vorübergehend ziemlich ähnlich funktionierten: Ich denke da an
diese
Goldgräberstimmung, die Rechtslosigkeit, die Erfolgsgeschichten, die
Niederungen, die Unwägbarkeiten etc. Aber zurück zum Text, wie
du jetzt
sagen würdest ...
dd: "Zeit für die Bombe" fasziniert durch den
erfrischenden Stil und eine Menge
interessanter Bilder und erhält auch durch den ironischen Umgang mit
der
HT-Technologie eine schöne Leichtigkeit. Wenn zB. die ersten Dateien
des
Textes, die Veronika vorstellen, sich automatisch alle 4 Sekunden erneuern,
'fühlt' der Leser regelrecht Veronikas Temperament und kommt im übrigen
so
gehetzt in der Geschichte an wie die Hauptfigur auf dem Moskauer Bahnhof.
Ein anderes Beispiel ist, wenn dein auktorialer Erzähler sich direkt
an die Leser
wendet und ihnen rät, welchem Link sie folgen sollen: "Iwan blieb
zurück -
allein mit einem schneidenden Gefühlsumschwung und all denen, die
jetzt hier
weiterlesen. Nehmt Euch bloß in acht. Unberechenbar sind oft Menschen
mit
zertretenen Herzen. Mir wird's zu heiß hier, adios", wobei >adios<
als Link
erwartungsgemäß von Iwan fortführt. An anderer Stelle wird
die Linkwahl sogar
eine Frage des Taktes: "Wer hier weiterliest, ist kein braver Leser mehr.
Der
reißt ja der halbnackten Geschichte auch noch die Dessous vom Leib.
Gemächlicheren Naturen rate ich: Rennt Veronika nach. Die anderen
sollen
halt um Himmels willen mitkommen, wir gehen zu Vladimir. VVV" - in diesem
Falle sind >Veronika< und >VVV< als Link markiert.
Du spielst darauf an, dass Hypertext dem Leser die Entscheidung der
Navigation überlässt, und im vorliegenden Falle kann man dabei
'brav' oder
'gemein' sein. An anderer Stelle zündet der Leser durch die Aktivierung
des
einzigen angebotenen Links die Bombe, die Iwan später zerreißen
wird.
Während es im Klappentext heißt "Vier mausklickschnelle Bombenleger
irren
durch die Zeit und ein gefrorenes Moskau", zeigt sich nun, dass der
mausklickende Leser der Bombenleger ist. Macht Hypertext die Lektüre
zu
einer Frage der Moral? Schließt er den Leser als Täter in den
Text ein?
SB: Ja, aber nur, weil Computer so üble Burschen sind. Man klickt
ganz harm-
und gedankenlos wo drauf, und schon macht sich zum Beispiel ein flinkes
Cleanex-Programm, dessen Existenz man schon völlig vergessen hatte,
daran,
sämtliche Installationen der vergangenen vier Jahre wieder rückgängig
zu
machen. Irgendwann meldet es sich dann mit der Nachricht: Ein
schwerwiegender Fehler sei aufgetreten und es müssten deshalb nun
leider alle
Daten gelöscht werden und streckt einem einen O.K.-Button entgegen.
O.K?
Das ist doch das Gegenteil von O.K., so was. Aber so einen Button gibt
es ja
nie, einen, auf dem dann steht: "Das ist ganz und gar nicht O.K." oder
"Ich find
das das Allerletzte", "Schweinerei" ... Ich frage mich immer, was für
Menschen
diese wahnwitzigen O.K.-Meldungen programmieren. Vielleicht wollte ich
in der
"Bombe" mal ausprobieren, wie man sich als so einer fühlt. Ergebnis:
Gut!
Sogar sehr gut! Nun ja, bei mir ist das natürlich völlig harmlos,
ungefährlich ...
dd: Es hätte durchaus gefährlicher werden
können. Es gibt ja noch andere
Waffen im Text. Iwan spricht davon, als er sich über den Genuss der
Leser an
seinem Unglück beschwert: "Weg! Verschwindet! Zerfallt zu Staub! Selber
bequem in der warmen Stube hocken und sich dann genüßlich lesend
an
meinem Unglück aufgeilen. Ich verachte Euch. Mitgefühl habt Ihr?
Pah! Ihr
könnt Euch gleich selber bemitleiden. Seht, was ich hier in meiner
dreckigen
Hand halte. Die erkundete im übrigen Veronikas Inneres, schon lange
bevor Ihr
überhaupt ein Wort von ihr gelesen habt. Was wollt Ihr also? Habt
Ihr sie
inzwischen erkannt, meine kleine Handgranate. Also wird's jetzt bald?"
Das zielt auf die Rezeptionssituation als solche, die Blumenberg einmal
"Schiffbruch mit Zuschauer" nannte und die Lukrez vor 2000 Jahren mit den
Worten beschrieb: "Süß ist's, anderer Not bei tobendem Kampfe
der Winde /
Auf hochwogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen; / Nicht als könnte
man
sich am Unfall anderer ergötzen, / Sondern weil man sieht, von welcher
Bedrängnis man frei ist". HT gibt durch seine Interaktivität
dem Leser nicht nur
die Möglichkeit, jene Bedrängnis durch einen Mausklick auszulösen,
sondern
auch dem Autor die Chance, die Zuschauer dann doch in die Bedrängnis
einzubeziehen. Die Handgranate könnte sich zB. als Trojanisches Pferd
oder
einfaches Virus erweisen, das beim Zünden der Bombe in den Computer
des
Lesers geladen wird, um dort einiges Unheil anzurichten. Der o.k.-Button
hätte
damit seine alte Gemeinheit zurückerhalten, mit dem Unterschied, dass
hier
die Leser, wenn sie das Zünden der Bombe eben nicht o.k. finden, auch
einen
anderen Weg einschlagen können.
SB: Klasse! Darf ich mal ein kleines Szenario entwerfen? Ich verwirkliche
also
deinen Virus-Vorschlag. Tag eins: Sagen wir, zehn Leute lesen den Text
und
holen sich den Virus. Tag zwei: Warnmeldungen werden gepostet in
sämtlichen Newsgroups, die das Thema mit einem halben Buchstaben
tangieren, die Mailingliste Netzliteratur wird ihren Traffic auf 1000 Mails
pro Tag
erhöhen. Tag drei: Erste Gerüchte werden ausgestreut, dass es
sich bei
weitem um keinen harmlosen Virus handele, sondern um einen
gemeingefährlichen Killervirus. Tag vier: Journalisten finden es toll,
das Literatur
so viel auslösen kann (in einem Computer), ich poste Gegendarstellungen.
Tag
fünf: Ich telefoniere mit meiner Rechtsanwältin ... und so weiter.
Das kann glaube ich ziemlich lustig werden. Nur: Würde noch ein Mensch
meinen Text lesen? Würdest du? Vielleicht auf einem Uni-Computer,
aber auf
deinem eigenen auch?
Und selbst wenn, angenommen du würdest es wagen, würdest du noch
im
eigentlichen Sinne "lesen" oder nur den Text nach der Virenstelle
"abscannen"? Als Metapher ist das natürlich interessant, aber wer
will den
Schiffbruch von Fiction und Faction wirklich erleben? Und was kommt raus
dabei?
dd: Zum Beispiel jene Zeitungsmeldung über die
neuerliche Wirkungsmacht
der Literatur :) Dass du es ausschlägst, mit einem so billigen Trick
berühmt zu
werden, ehrt dich natürlich. Und wahrscheinlich wäre der Literatur
auch in der
Hinsicht nicht gedient, dass man dann wirklich, und zwar wirklich auf dem
Rechner der Uni, das Werk nicht mehr lesen, sondern nur nach der Stelle
absuchen würde. Aber es gibt gewiss Mittelwege: Das Programm zwingt
den
Bombenleger, den Computer neu zu starten (das tut mein Computer mitunter
selbst, wenn ich gerade hundert Friedenstauben in Photoshop gemalt habe)
oder es schickt ihn an den Anfang der Geschichte zurück oder es greift
zu
Verbalinjurien. Das wären drei Fliegen mit einer Klappe: 1. der Leser
muss fürs
Bombenzünden büßen, 2. die Mailingsliste Netzliteratur
erhöht den täglichen
Postausstoß auf 500 und macht dich berühmt und reich, 3. du
musst das Geld
trotzdem nicht in deine Anwältin investieren. Aber ernsthaft: Wie
weit könnte
der Autor einer Hyperfiction mit der Publikumsbeschimpfung gehen?
SB: Ich fürchte, nicht sehr weit. Zumindest dann nicht, wenn Hyperfiction
Fiction bleiben will, und nicht so sehr an der Grenzauslotung zum "Realen"
interessiert ist, falls es so etwas wie "Reales" innerhalb des fiktiven
Internetraums überhaupt gibt. Ist vielleicht ein fließender
Übergang. Dennoch:
Sobald es in einer Fiktion so etwas wie einen Virus gibt, fragt man sich
doch
die ganze Zeit, wo die Fiktion jetzt aufhört, ob der Virus wirklich
was auf dem
eigenen Computer kaputt macht und so weiter.
dd: Die Situation wäre in der Tat beunruhigend. Das Lesen bekäme
eine
Intensität wie in "Basic Instinct" der Sex des Polizisten mit der
mutmaßlichen
Mörderin. Und darauf lässt sich gewiss nicht jeder ein, selbst
dann nicht, wenn
der Text so attraktiv ist wie Sharon Stone.
SB: ... wenn der eigene Computer Muskeln und Pistolen hat wie Michael
Douglas, dann vielleicht? ... Nein, also, versteh mich recht, ich finde
das nicht
uninteressant - Sex mit der Mörderin ... nebenbei gesagt, was für
ein
Anspruch, dass Literatur so intensiv sein soll! Das ist ja echt gut. Aber
was ich
meine: So ein (halb)fiktiver Virus ist doch wie ein Theatermesser, dessen
Klinge nicht völlig im Griff verschwindet, sondern noch einen halben
Zentimeter
vielleicht raussteht, einem das Hemd zerfetzt und den Bauch aufritzt. Sicher,
das fiktive Erlebnis wird dadurch recht "intensiv", vor allem in dem Moment,
wo
man vielleicht fürchtet, mein Gott, machen die jetzt ernst oder was,
werde ich
jetzt wirklich erstochen? - nur andererseits verschiebt sich auch die
Aufmerksamkeit, von der rein fiktiven Situation, dieser ungeheuerlichen
Vorstellung, dass da einfach einer herkommt und mir das Messer in den Bauch
stößt, hin zum Nachdenken über Hemdenrechnungen, Pflaster
und
Schmerzensgeldforderungen.
dd: Eine Kollegin von dir, die amerikanische Hyperfiction-Autorin
Deena
Larsen, hat den Gedanken in einer Hypertext-Mailingliste einmal aufgeworfen,
einen Text bewusst zwischen Fiction und Realität changieren zu lassen
und
aus der Geschichte auf der Suche nach einer vermissten Person zu der realen
Website eines realen Unternehmens zu linken, das so unwissentlich eine
möglicherweise negative Rolle in einem Netzkrimi spielt. Ich fand
die Aussicht
vielversprechend, solcherart die Kommunikationsebenen zu mixen und den
Link
zu einem Produktanbieter, der gewöhnlich als Werbeträger fungiert,
einmal als
Verdachtsmoment zu semantisieren. Mal sehen, ob sich das Erzählen
im Netz
tatsächlich in diese Richtung entwickelt.
SB: Das wäre dann ein Erzählen, das eine Art Internet-Ready-Mades
integriert.
Hm. Meinst du, dass sich da wirklich Ebenen vermischen? Und ... ist das
spannend, wenn ich mitten im Krimi z.b. bei der "Schurken"-Telekom lande?
dd: Bleiben wir bei der Hyperfiction, die nicht mit
fremden Websites spielt.
Welche Möglichkeiten siehst du hier für das interaktive Erzählen?
SB: Als ich "Zeit für die Bombe" schrieb, war ich ziemlich stark auf
die - wie
soll ich sagen - "Leser"-Verwicklung in den Text fixiert. Man kann diese
Publikumsbeschimpfungen auch als erste "theatrale Ansätze" ;) begreifen.
Ein
bisschen haben sie schon was von einem Kasperle-Theater, dieser Ruf auf
jeder zweiten Seite: "Und? Seid Ihr alle daaa, ihr Schweineigel?"
Lange Zeit habe ich gedacht, das wäre das eigentliche Ding, dem Leser
zu
sagen, wie er liest. Nein, eigentlich wollte ich ihm vor allem sagen, dass
ich
beziehungsweise der Text so schlau sind zu wissen, wie und was er klickt.
Gut, dieses Wissen ist natürlich äußerst bescheiden, denn
ich weiß ja nicht,
ob er auch liest oder nur blind drauf los klickt, was auch ein Affe könnte,
aber
immerhin, weiß ich, dass einer ein bestimmtes Link geklickt haben
muss und
ein anderes ignoriert hat, wenn er auf eine bestimmte Seite kommt. Das
halte
ich immer noch für das Entscheidende, dass man damit was anfängt.
Nur was?
Immer nur mit dem Leser über das Lesen von Hypertexten zu spekulieren,
das
erschöpft sich irgendwann.
Deshalb - so hab ich mir das ausgedacht - sollte der Leser nicht nur Leser
sein, sondern selbst eine Figur innerhalb einer Geschichte übernehmen.
Lesen
und gleichzeitig mitspielen. Aus dieser wie ich immer noch glaube im Prinzip
"guten Idee" entwickelten sich dann hauptsächlich eine Menge Probleme
... am
Hypertext "Hilfe!" und seinen verschiedenen Stadien sind die bestens
abzulesen.
dd: Zu "Hilfe" will ich gleich kommen, zunächst
würde ich aber gern noch drei
Kleinigkeiten an "Zeit für die Bombe" erfragen. Es gibt einige Nodes
mit
internen Default-Links, die innerhalb der Datei zum nächsten Textabschnitt
führen. Diese Links fungieren also weder als Absprung zu einem externen
Text,
noch als interne Alternative. Andererseits unterbrechen sie den Textfluss.
Welche Funktion haben diese Links für die Geschichte? Sollen sie gerade
die
Alternativlosigkeit anzeigen? Folgen sie der Logik einer bestimmten
Bildschirmästhetik?
SB: Ein simpler Grund: Ich seh nicht gern scrollenden Text Und ein etwas
pingeliger Grund: Der Browser mit dem Scrollbalken ist das Gerät,
der "Film"
läuft aber drinnen innerhalb des Rahmens ab. Deshalb soll es dort
auch
weitergehen, und man soll dazu nicht am Gerät rumschalten müssen.
dd: Du arbeitest mit verschiedenen Textfarben und -größen und
variierst
gelegentlich selbst die Textausrichtung. Nach welchem Prinzip gehst du
vor?
Was ist der Gewinn für die Erzählung?
SB: Das ist so zu verstehen: Der Hypertext besteht aus x Zetteln und jeder
Zettel liegt in einem andersfarbigen Raum in einem anderen Eck.
dd: Die letzte Frage dazu ist eigentlich keine Kleinigkeit, sondern zielt
auf die
prinzipiellen narratologischer Möglichkeiten der Hyperfiction. Veronika
fragt sich
am Ende der Geschichte, wie das alles nur zusammenhänge, und spricht
damit gewiss manchem Leser aus dem Herzen. Sie, und mit ihr der Leser,
begibt sich auf der Suche nach der Geschichte wieder an deren Anfang. Man
kann noch einmal durch den Text navigieren - bis man schließlich
an das
gleiche Ende gelangt. Man kann sich nun zwar anders durch die Textbausteine
bewegen, aber diese selbst sind die gleichen: Es gibt keine Alternative
zu den
schon einmal vorgefundenen Linkalternativen. Dies ist eine klare Aussage.
Eine
andere wäre die Veränderung des Geschehens gewesen. Die Leser
hätten in
eine zweite Textschleife geleitet werden können, die zunächst
wie die erste
ausgesehen, dann aber eine etwas modifizierte Geschichte angeboten hätte.
Das Argument für diesen Trick wäre das Schlagwort Derridas gewesen:
Differance. Denn dass Aufschub Veränderung ist, gilt sicher auch für
das
Erinnern. Auf diese Weise hätte die Geschichte eine weitere Ebene
gewonnen
und die Philosophie des Hypertextes ästhetisch ausgeschöpft.
SB: Erinnerung als Differance, hm. Hätte ich damit nicht vor allem
eines
gesagt: Schaut mal her, ich kenne Derrida! Und dann, funktioniert nicht
Erinnerung im Internet anders, zum Beispiel so: Du rufst deine Lieblingsseite
auf und da heißt es dann: "Wie schön, dass Sie wieder da sind,
Roberto
Simanowski! Wir, die versammelten Systemadministratoren und Webdesigner
dieser bescheidenen Homepage freuen uns über jedes vernünftige
Maß hinaus,
dass Sie uns nun bereits zum 501. Mal besuchen." Und dann wird dir gezeigt,
was du von deinen vorangegangenen 500 Besuchen schon bestens kennst und
du klickst dich sofort weiter und weg. Das ist für mich Erinnerung
im Netz:
Zählen und Beschleunigen.
Also wenn ich mir was wünschen dürfte, dann wäre das ein
Leser, der sich
immer schneller durch den Text klickt und schließlich per Zentrifugalkraft
aus
dem Text geschleudert wird. Das stelle ich mir gut vor. Nun ja,
Autorenwünsche müssen natürlich nicht unbedingt mit Leserwünschen
zusammenfallen.
Für eine Hyperlesung von "Zeit für die Bombe" habe ich mal versucht,
etwas
ähnliches mit Hilfe von Cookies zu arrangieren. Klickte das Publikum
eine
Seite zum zweiten Mal an, wurde das erstens kommentiert "Was, Ihr schon
wieder hier!", zweitens kurz referiert, was auf dieser Seite passiert und
das
jedesmal knapper, so dass beschleunigt weitergeklickt werden musste, was
natürlich bevorzugt in der Wiederholungsrunde passierte. Eigenartig
war im
ersten Moment, als ich das geschrieben hab, dass sich in diesen
Cookie-Texten ja ein weiterer Erzähler zu Wort meldet, eine Art
Administrator-Erzähler, der wie ein Begleiter der Leser auftritt,
er erzählt, dass
und was schon erzählt wurde ... Der Trick (ja, hier kommt jetzt mein
Trick)
dabei ist, dass sich das dann wie der rote Faden einer konventionellen
Erzählung durchzuziehen scheint. Die Leser fühlen sich so weniger
verloren,
glaub ich.
Teil II - "Hilfe!"