Teil II - "Hilfe!" (Teil I)
dd: Eine solche Beobachtung des Lesers strebst du
auch in deiner
Hyperfiction "Hilfe" an, die 1999 in Ettlingen prämiert wurde. Es
handelt sich
wieder um ein reines, mit dem Kombinationseffekt der Hyperfiction arbeitendes
Textwerk, dessen Figuren in kleinen Java-Fenstern auf dem Bildschirm
erscheinen, was diesen zu einer Bühne macht und dem Ganzen in der
Tat
einen theatralen Effekt gibt. Die Person Jo wird aus einem Flugzeug geworfen
(je nach benutztem Link über dem Gebirge oder über dem Meer)
und trifft,
unten angekommen, auf Ed, Pia, Lea, Max, die nun ihre verschiedenen
Hoffnungen im Hinblick auf Jo hegen. Im Grunde geht es darum, mit wem Jo
sich einlässt. Die Java-Fenster zeigen die gesprochenen Sätze
der Personen
an, der dazu erscheinende Text im Hauptfenster verrät ihre heimlichen
Gedanken. Recht schnell gelangt man an Textstellen, die entweder Jo in
das
jeweils andere Geschlecht verwandeln oder ihn/sie an den Ausgangspunkt
Flugzeug zurückführen, um den Fenstersturz und die Begegnung
mit Ed, Pia,
Lea und Max zu wiederholen. Auf diese Weise begegnet man allmählich
schon
gelesen Passagen, die nun ein bisschen anders fortgeführt werden,
wenn man
nun einem anderen Link folgt. Habe ich den Text soweit richtig verstanden?
SB: Du beschreibst ihn bestens. Nur eins vielleicht noch: Die vier Figuren,
Ed,
Pia, Lea und Max schreiben vielleicht eher, als dass sie sprechen. Die
laut
"gesprochenen Sätze" funktionieren wie der Betreff ihrer heimlichen
Mailbotschaften oder das im Chat oder MUD öffentlich getippte, das
dem
heimlichen "Gedanken-"Geflüster voraneilt. Ich hatte eine Zwittersprache
im
Sinn, zwischen mündlich und schriftlich.
dd: Was die schon angesprochene Beobachtung des Lesers betrifft, so
schreibst du im Begleittext: "Als ich mit »Hilfe!« begann,
stellte ich mir die
Kontrolle und den dadurch möglichen Dialog mit dem Leser ziemlich
umfassend vor: Vier fiktive Personen beobachten ihn, buhlen um seine
Aufmerksamkeit, machen Jagd auf ihn. Sollte er etwa seine Maus unsicher
über den Bildschirm bewegt haben, gezögert oder im Gegenteil
so schnell
weitergeschweift sein, dass er unmöglich den Text gelesen haben konnte?
Die
vier würden darauf reagieren, verschieden, je nach Charakter. Der
Leser sollte
Konsequenzen spüren." Mit welchen Konsequenzen muss der Leser hier
rechnen?
SB: Oh, mit gar keinen, überhaupt nicht, ich schwör's, davon
bin ich völlig
abgekommen, und wenn es welche gäbe, würde ich natürlich
dasselbe sagen ;)
dd: Gut, versuchen wir es anders. Du sagtest vorhin,
dass die Absicht, den
Leser zugleich Mitspieler sein zu lassen, eine Menge Probleme hervorbrachte.
Welcher Art sind diese?
SB: Das Grundproblem ist: Wie bringe ich die Leser dazu, Mitspieler zu
werden und wollen die das überhaupt? Mein erster Versuch ging so:
Da "Hilfe!"
eine Art MUD oder Chat darstellen (nicht sein) soll, schrieb ich erst mal
so, als
wäre es einer. Und weil es dort üblich ist, dass einem permanent
mitgeteilt
wird, was man selbst gerade tut, z.b. "Du reißt dir jetzt alle Haare
einzeln aus",
dachte ich, genau das mach ich mit dem Mitspielerleser auch. Ich erzähle
ihm,
was mit ihm passiert und was er mit seinen Klicks tut, damit soll klar
werden,
dass ein Klick kein Seitenumblättern ist, sondern ein ganzer Satz
innerhalb der
Geschichte. Bei ersten Probeläufen stellte ich dann erstaunt fest,
dass gar
nicht wenige Menschen plötzlich darauf bestehen, dass sie sich die
Haare gar
nicht ausreißen, nicht nur jetzt nicht, sondern dass sie das auch
nie und auf
keinen Fall tun würden. Das Lustigste, was ich in dieser Richtung
erlebt habe,
war ein Freund von mir, der mich nach der "Hilfe!"-Lektüre vollkommen
unschuldig fragte, wer eigentlich dieser "Du" in der Geschichte sei. Ich
darauf:
"Na du halt!" und er dann wieder "Wie, ich?". Völlig absurd. Und dann
erzählte
er, dass er während des Lesens immer irgendwie den Wunsch gehabt hätte,
hinter sich zu schauen, ob da noch mal einer stehe, der dieser "Du" vielleicht
sein könnte. Weil er, da war er sich sicher, er war dieser "Du" nicht,
er wäre,
wenn schon, ein ganz anderer "Du".
Ich schloss daraus, dass das Du und die Gegenwartsform der Erzählung
manchen offenbar zu sehr auf den Leib rücken und sie dadurch keineswegs
in
die Geschichte hinein-, sondern auf direktem Weg hinauskatapultiert werden.
Das war Problem A. Deshalb führte ich die Identifikationsfigur Jo
ein und
wechselte ins Imperfekt. Tatsächlich fällt es jetzt vielen leichter,
der
Geschichte zu folgen, aber dafür taucht Problem B häufiger auf.
Die Leser
vergessen oder kapieren nicht, dass sie Jo spielen, dass sie klicken müssen,
damit was passiert und dass das, was daraufhin passiert, eine Reaktion
auf
ihren Klick ist.
Wie im Mitmachtheater ist das: Ein Zuschauer wird auf die Bühne gezerrt,
die
Schauspieler erklären ihm kurz seine Rolle, er spielt mit, solange
er am Zug
ist. Sobald er jedoch eine Weile nicht "dran" ist, vergisst er die Rolle
wieder, ist
wieder ganz Zuschauer, der zufällig und deplatziert auf der Bühne
rumsteht,
hofft, dass er unsichtbar sei, und wenn er dann wieder angesprochen wird,
schaut er vermutlich erst mal hinter sich, ob da einer steht, der gemeint
sein
könnte. Er doch nicht!
Hyperfiction müsste dem Leser ermöglichen, dass er permanent
und ohne
Anstrengung zwischen Zuschauerraum (seiner Rolle als Leser) und Bühne
(der
Rolle des Mitspielers) hin- und herspringt, und es müsste natürlich
Leser
geben, die das mögen und auch können, weil sie Übung drin
haben. Das hat
aber im Moment kein Mensch, der Autor auch nicht.
dd: Auf diese Frage würde ich gern in vier,
fünf Jahren zurückkommen. Jetzt
aber zur Gretchenfrage der digitalen Literatur. "Hilfe!" arbeitet noch
stärker als
"Zeit für die Bombe" mit Effekten, die fortgeschrittene Kenntnisse
im
Programmieren erfordern: Wie hältst du es mit der Technik? Muss der
moderne
Dichter auch die Software perfekt beherrschen oder darf er sich, wegen
der
Konzentration aufs Wesentliche, mit jemandem zusammentun, der sich schon
damit auskennt?
SB: Das Wesentliche der digitalen Literatur? Was ist das denn? Sprichst
du
vom Text? Oder von Text und Bild? Plus Navigation und Konzept? oder ...
Das
ist wie beim Film vielleicht. Was ist da das Wesentliche? Das Drehbuch,
die
Schauspieler, die Kamera, die Schnitttechnik? Hm. Entscheidend ist halt
- das
Ergebnis, find ich. Wie viele daran gearbeitet haben, ist mir als Zuschauer
doch
egal. Ich programmiere selbst, weil es mir Spaß macht. Es ist so
beruhigend
und so klar: Entweder es klappt oder nicht, bei einem Text, da weiß
man doch
nie, nie hilft einem da zum Beispiel eine Script-Fehlermeldung, so in der
Art
"Assoziationsfehler in Satz 13, Wort 4 bis 7: schlappe Schnittmenge;
Satzrhythmusfehler Zeile 301: Zunge bricht beim Zeichen 45" oder Figurenfehler
in Zeile 10: Wer ist der "Du"?
dd: Eine klare Haltung zu einem umstrittenen Phänomen. Weiter im Text:
Beat
Suter sieht in seinem Buch "Hyperfiktion und interaktive Narration" in
"Zeit für
die Bombe" und "Die Aaleskorte der Ölig" die Vertreter einer neuen
Avantgarde.
Wie siehst du dich selbst? In welcher Tradition stünde eine solche
Avantgarde?
Welche Brüche sind ihr wichtig?
SB: Entschuldigung, aber mir ist das vollkommen "wurscht". Das ist erstens
meine ehrliche Meinung und zweites eine kleine Referenz an Hannes
Auers T-Shirt-Fabrikverkauf, wo es unter anderem auch mein Lieblings-T-Shirt
"Avantgarde ist wurscht" zu kaufen gibt. Am besten stellt man sich jetzt
vor,
dass ich es gerade anhabe. Mit Avantgarde, überholten oder nicht überholten
Postulaten der Moderne hat das, was ich mache, eigentlich überhaupt
nichts
zu tun. Es ist eine rein persönliche Vorliebe für noch unbesetzte
und damit
angenehm freie Experimentierfelder.
dd: Ob Avantgarde oder nicht, der Wunsch, die Regeln
des linearen Erzählens
aufzubrechen, hat zumindest einige Tradition und scheint mit dem Computer
seine eigene Technologie gefunden zu haben. Welche Ausdrucksmöglichkeiten
siehst du in der Hypertextstruktur?
SB: Oh Schreck, darüber denke ich eigentlich nie nach. Wie rechtfertige
ich
mich jetzt? Vielleicht so: Gäbe es das Internet nicht, würde
ich wohl keine
Hypertexte schreiben. Damit ist eigentlich alles gesagt. Fast alles, was
ich für
das Internet geschrieben habe, macht sich im Grunde Erfahrungen in und
mit
dem Netz zum Gegenstand. Nur deshalb verwende ich diese Struktur, ich
verspreche mir nichts Spezifisches von ihr und sie hat sicher ihre
Beschränkungen. Aber zunächst mal ist sie einfach da, und was
sich innerhalb
dieser Struktur erleben lässt, kann möglicherweise auch mit dieser
Struktur am
Besten ausgedrückt werden. Das ist mein Gedanke dabei - ziemlich simpel.
Ich habe auch nie das Gefühl, irgendetwas aufzubrechen, z.B. die Regeln
des
linearen Erzählens, ganz im Gegenteil bin ich vielmehr damit beschäftigt,
meine im Netz so leicht auseinanderfallenden Textseiten irgendwie
zusammenzuhalten.
dd: Die Struktur ist das eine, die eingesetzten Sprachcodes
das andere.
Hypertext begann einmal als reines Textunternehmen, es ging allein um die
multilineare Anordnung von Worteinheiten, und etwas anderes war in jenen
Tagen vor der Bildfähigkeit der Computer und des Netzes auch gar nicht
angesagt. Dass der Textpurismus nicht nur aus der Not eine Tugend macht,
ist
Robert Coovers Klage über die Multimedialisierung des Webs zu entnehmen.
Coovers Essay Anfang 2000 hat den vielsprechenden Titel Literary Hypertext:
The Passing of the Golden Age; eine Zeile darin lautet: "hypertext is now
used
more to access hypermedia as enhancements for more or less linear narratives
[…] the reader is commonly obliged now to enter the media-rich but ineluctable
flow as directed by the author or authors: In a sense, it's back to the
movies
again, that most passive and imperious of forms." Dieser Ansicht steht
eine
andere gegenüber, nach der auch Hypertexte sich - um der Erzähl-
und
Genießbarkeit willen - an Regeln des linearen Erzählens werden
halten müssen
und dafür andere Elemente des digitalen Mediums stärker einsetzen
sollten.
Du experimentierst in deinen Hypertexten ja ausschließlich mit der
Struktur
und enthältst dich jeglicher Bild- oder Tondateien. Welche Zukunft
hat die
klassische, rein textbasierte Hyperfiction deiner Meinung nach?
SB: Zukunft? Kennst du den Buddha-Dreizeiler: Es wird weitergehen, anderes
wird kommen, wir werden sehen, was kommt. Ich finde, da hat er recht, der
Buddha. Die andere Sache ist: Schreibe ich denn wirklich klassische, rein
textbasierte Hyperfiction? Dass es bei mir keine jpgs oder gifs gibt, heisst
ja
nicht, dass ich keine Bilder verwende. Ich stelle die Bilder eben über
den
HTML- und Javascript-Code her, über Frames, Fenster, Tabellen, Farben
- du
hast es ja selbst beschrieben, dass z.B. "Hilfe!" den Bildschirm zur Bühne
macht. "Die Welt als Rechteck" könnte das Gestaltungsprinzip heißen.
Ich
finde das passend. Und wenn ich mal Ton verwenden will, dann werde ich
mich
ziemlich sicher erst mal nach computergenerierten Dingen umsehen. Wer
dagegen Bild- und Tondateien auf seinen Webseiten verwendet, benutzt den
Computer als Träger/Medium, mich interessiert er mehr als Generierer.
dd: Die Prämierung sowohl von "Zeit für
die Bombe" wie "Hilfe!" hat dich in der
Hypertext/Netzliteratur-Szene recht bekannt gemacht und zu verschiedenen
offiziellen Einladungen geführt, was angesichts der mangelnden medialen
Aufmerksamkeit für das literarische Netzgeschehen noch recht ungewöhnlich
ist. Wie sieht dein Leben als 'Hypertext-Handlungsreisende' aus?
SB: Ein dunkles Kapitel. Mitten in der Nacht, an Feiertagen oder in sonst
schwachen Momenten rufen irgendwelche Leute an und wollen, dass ich
irgendwohin komme. Und die sind so unwahrscheinlich hartnäckig, weil
sie
glauben, ich sei eine riesige Attraktion für ihr Programm. Ich versuche
ihnen
klar zu machen, dass das keinesfalls so ist, aber das wollen sie natürlich
nicht
hören etc. etc, das sehen sie dann erst am Tag der Aktion.
Man muss ziemlich viel Werbung machen, damit eine solche Veranstaltung
läuft, und dann muss der Ort stimmen, er muss mit den richtigen Dingen
besetzt sein, das Equipment muss da sein, und so weiter ... Hannes Auer
ist
das zum Beispiel mal gelungen. Da war es wirklich ziemlich gut. Mit zwei
Sprechern, drei Monitoren, Beamer und Funkmaus ... das funktionierte
bestens, alle haben sich amüsiert. Der Journalist von der Stuttgarter
Zeitung
schrieb dann, dass "Hilfe!" auf Ideen verweise, die Raymond Queneau im
Sinn
hatte ... Das stimmt zwar nicht, aber an diesem Abend mag das vielleicht
so
ausgesehen haben, weil die Leute so wild drauf losklickten und auch ganz
unglaubliche Zufallsbedeutungen entstanden ... Sowieso, stört mich
ein solcher
Eindruck ja nicht. Genau das, also wie die Leute klicken, das ist natürlich
das
Interessante für mich. Deswegen mache ich das. Und das ist so
unterschiedlich, erstaunlich, immer wieder überraschend.
dd: Ich wünsche uns, dass dies so bleibt, und
bedanke mich für die
ausdauernden Antworten.
***
"Hilfe!" erschien im Oktober 2000 als CD
ROM
im update verlag, Zürich, edition cyberfiction 1
ISBN 3-908677-07-6, Preis: ca 30 Franken